Es gibt viele Dinge, die ich gerne vorher gewußt hätte. Aber so wirklich gibt es bestimmte Informationen nicht. Jakobsweg - was Dir keiner vorher sagt. Ich versuche mit diesem Beitrag meine Gedanken dazu in Worte zu fassen.
Klar, man liest unheimlich viel über die Etappen, Herbergen, Pilgermenüs, Bettwanzen, Blasen und diverse andere Dinge. Aber da gibt es Dinge, die sagt Dir niemand vorher.
Es heißt immer nur: Hab vertrauen! Der Weg entscheidet für Dich! Vertrau dem Weg, er zeigt Dir wo es lang geht!
Mr. Reloves hat mir eine Muschel auf den Weg mitgegeben, auf der steht: „ Der Weg gibt Dir nicht das, was Du willst, sondern das, was Du brauchst!“
In meinem Fall war dies das absolute emotionale Chaos. Dieser Weg ist eine emotionale Berg- und Talfahrt. Auf diesen Weg kann man sich in keinster Weise mental vorbereiten. Trotzdem hätte ich dies eben gerne vorher gewusst. Wenn man aber nach – Jakobsweg – was Dir keiner vorher sagt – googelt, erhält man nicht viele brauchbare Ergebnisse.
Es sind Dinge mit mir passiert, auf die hätte ich mich aber auch nicht vorbereiten können. Dinge, mit denen ich niemals gerechnet hätte. Klar, ich wusste ich habe mir mit dem Camino del Norte (den Küstenweg in Spanien), einen der "härtesten" Jakobswege ausgesucht. Diesen Weg sollte man nicht untrainiert gehen. Ich habe dies gewusst, denn davon kann man oft im Internet lesen. Trotzdem bin ich übergewichtig, untrainiert und aus meinem Schreibtischjob heraus genau diesen Weg gegangen.
Es war eine harte körperliche Erfahrung. Aber es ist nicht der Körper der auf dem Weg gelitten hat, es war eher der Geist. So habe ich bei meiner ersten Etappe gezweifelt und gedacht ich werde es niemals schaffen. Abends dann habe ich die ersten Menschen kennengelernt – es schien so als ob ich genau das brauchen würde. Am nächsten Tag bin ich alleine los (ein Fehler!) und gescheitert. Nach 10km habe ich völlig aufgelöst in San Sebastian im strömenden Regen gesessen und wollte keinen Meter mehr gehen. Meinen ganzen Jakobsweg habe ich in Frage gestellt. Mein ganzes Dasein und den Sinn meines Daseins. Man wird philosophisch wenn man aufgelöst im Regen sitzt und sich selbst bedauert. Ich habe mich diesem Tiefpunkt hingegeben und tatsächlich den Bus genommen. An meinem Ziel angekommen, in der nächsten Herberge, waren dann plötzlich wieder all die lieben Menschen die ich am Abend zuvor kennengelernt hatte und ich wusste, ich brauche Gesellschaft. Das war das erste was mich der Weg gelehrt hat. Es sollte einfach nicht sein, dass ich alleine laufe.

Bevor ich gestartet bin war meine größte Sorge, ob die Menschen, die ich treffen werde, verstehen werden, dass ich gerne alleine bin und meinen Weg alleine gehen möchte. Diese Frage hat mich so sehr beschäftigt, dass ich tagelang nicht schlafen konnte. Aber es kam eben anders als ich das hier in meinem "normalen" Leben gewohnt bin.
Die nächste Lehre die ich ziehen musste war, dass es völlig OK ist, wenn Menschen auf einen warten müssen. Ich (völlig untrainiert), bin mit diesen Menschen zusammen gewandert, mal mit vielen, mal mit nur einer Person. Aber immer war ich die Schwächste (auch eine neue Erfahrung) und die Anderen haben auf mich gewartet wenn ich eben nicht so schnell die Berge hochgekommen bin. Es war mir peinlich, ich habe mich geschämt und sehr schwach gefühlt. Normalerweise bin ich stark, bin immer für andere da und auch für andere stark. Es war eine sehr intensive Erfahrung die ich machen musste. Aber ich habe mich sehr schnell daran gewöhnt. Das schien die zweite Sache zu sein, die mir der Weg gezeigt hat.
Jakobsweg - was Dir keiner vorher sagt: Es ist nicht der Körper der schwach ist, sondern der Geist. Klar, ich hatte Muskelkater, Blasen, habe mir meinen Rücken verrenkt, meinen linken Fuß entzündet, bin mehrfach umgeknickt und habe mir Bänder überdehnt. All das sind Kinkerlitzchen im Vergleich zu meinem geistigen Schmerz den ich gefühlt habe. Es gab Momente, da wollte ich einfach nicht mehr weitergehen. Ich dachte mein Körper sei müde, aber es war mein Geist. Ich habe viel geweint, es waren keine Tränen des Schmerzes, sondern Tränen geistiger Erschöpfung. Ich kann diese Erschöpfung nur sehr schwer beschreiben. Eigentlich kann ich dieses Gefühl nicht beschreiben. So erschöpft wie ich im Geiste war, so glücklich war ich jedes Mal gleichzeitig und dazu noch völlig verwirrt und müde. Ich war stolz und fix und fertig. Ich war überfordert mit der Situation. Kannte diese Gefühle nicht, habe sie allerdings akzeptiert und dies waren die Gefühle, die mich die 850 km begleitet haben.
Jeden Tag bin ich ein kleines bisschen mehr an diesen Gefühlen gewachsen. Jeden Tag bin ich ein kleines bisschen besser mit diesen Gefühlen zurecht gekommen. Jeden Tag wurde es ein kleines bisschen leichter für mich diese Gefühle einzuordnen. Dieses Gefühlschaos war das Dritte was ich lernen mußte.
Dinge, von denen ich dachte sie würden mir am meisten zu schaffen machen, wie z.B. mit vielen fremden Menschen in einer überfüllten Herberge zu schlafen, mit vielen fremden Menschen ein Bad zu teilen, im Etagenbett zu schlafen, vielleicht auch Bekanntschaft mit Bettwanzen zu schließen und vielleicht auch einmal nichts richtiges zu Essen zu finden, waren mir völlig egal. Vor meinem Weg habe ich mir unheimlich viele Gedanken um diese Dinge gemacht. Während ich unterwegs war habe ich diese Dinge einfach akzeptiert. Ich, die ich normalerweise meist in 5 Sterne Hotels übernachte und mir den Hintern nachtragen lasse, habe diese Art des Reisens angenommen und es hat mir gefallen. Das war das Vierte, dass ich gelernt habe. Es braucht nicht viel um einen tollen Urlaub zu verbringen. Man braucht keinen 20 kg Koffer voll mit schicken Klamotten im Urlaub, es reicht eine Wechselgarnitur.

Jakobsweg - was Dir keiner vorher sagt, war meine größte Enttäuschung die ich während der ganzen Zeit erlebt habe. Mein Erlebnis, als ich endlich am Ziel war, war sehr ernüchternd. Mir ging es wie den meisten Pilgern wenn sie endlich in Santiago ankommen. Santiago de Compostella ist das Ziel, dem ich entgegen gelaufen bin. Das Ziel, das ich erreichen wollte. Als ich angekommen bin war ich noch verwirrter, als ich es ohnehin schon war. Ich war da, endlich angekommen und völlig enttäuscht. Enttäuscht, weil ich angekommen war, weil meine Reise nun dem Ende entgegen ging. (So dachte ich!)
Ich war enttäuscht, weil ich nicht jubelnd vor der Kathedrale gestanden habe wie viele Pilger um mich herum. Ich war am Boden zerstört. Ich habe geheult und das obligatorische Bild gemacht, dass alle vor der Kathedrale machen. Ich habe versucht irgendwo in mir dieses Jubelgefühl zu finden - doch da war nichts. Ich habe mich einsam und verlassen gefühlt. Ich habe mich betrogen gefühlt, sogar ein kleines bisschen verarscht. Ich war sauer auf den Weg und all die Dinge die ich erlebt habe, bzw. die mich der Weg hat erleben lassen. Der Weg war in meinen Augen nicht gut zu mir! Ok, das habe ich in meiner Verzweiflung gedacht. Aber in Wirklichkeit war der Weg das Beste was mir passieren konnte. Es sind Dinge mit mir geschehen, von denen hätte ich niemals gedacht das sie passieren würden.

Jakobsweg – was Dir keiner vorher sagt
Nun das, was mir am meisten zu schaffen gemacht hat… darüber sprechen die wenigsten. Vielleicht, weil sich niemand traut es zu sagen. Ich habe ein Problem wieder Zuhause zu sein. Ich habe eine Unruhe in mir. Ich möchte weitergehen. Mein Weg ist noch nicht zu Ende. Ich komme Zuhause nicht mehr zurecht. Es liegt nicht nur daran, dass ich das Gefühl habe im Überfluss zu leben. Nein, es ist vielmehr eine geistige Unruhe. Ich habe das Gefühl, mein Weg hat noch nicht angefangen. Also als ob ich noch nicht "richtig" meinen Jakobsweg gelaufen bin. Als ob das, was ich 5 Wochen lang erlebt habe auf meinen 850 km ein erster Test, eine Art Training gewesen ist. Ich fühle mich, als ob mich der Weg testen wollte, ob ich dem was jetzt kommt gewachsen wäre. Ich habe versucht diese Unruhe mit langen Spaziergängen und möglichst viel Sport zu befriedigen. Es funktioniert nicht. Ich habe angefangen alles unnötige in meinem Leben auszumisten. Dies funktioniert nur bedingt. Ich fühle mich rastlos, auf der Suche nach einer Lösung und komme nicht ans Ziel. Mein Weg beginnt erst, dass habe ich inzwischen erkannt.
All die Dinge die ich erlebt habe, haben die Menschen mit denen ich unterwegs war so wohl nicht erlebt. Es war, trotz das ich immer unter Menschen war, mein ganz eigener Weg. Die Menschen mit denen ich unterwegs war, haben ihren eigenen Weg beschritten. Dieser Weg war völlig anders als mein Weg.
Ich habe viele der Menschen mit denen ich unterwegs war nach ihrem schönsten Geruchserlebnis gefragt. Hier waren wir alle der gleichen Meinung: Eukalyptus und Minze. Das war etwas, was wir alle gemeinsam auf unserem Weg in Erinnerung behalten haben. Also sind es wirklich nur die Emotionen, die den Weg für uns alle unterschiedlich gestaltet haben. Die Richtung war immer die Gleiche – Santiago und der Weg im Herzen! Das Herz bzw. der Geist hat die Richtung von jedem einzelnen individuell bestimmt.

Der Weg macht mit Dir, was er will. Du kannst den Weg nicht bestimmen, er bestimmt dich!
Bevor ich meinen ersten Weg gegangen bin habe ich mich selbst mutig genannt. War ich also mutig? Bin ich mutig? Meine Gedanken vor meinem ersten Jakobsweg könnt Ihr hier nachlesen.
Ich starte einen neuen Weg oder ist es eher ein weglaufen vor meinem alten Weg? Ich weiß es nicht! Was ich aber weiß ist, ich bin vorbereitet! Ich weiß nun, was passieren kann.
Ich starte meinen Weg wieder alleine, es ist ein neuer Weg, ein kurzer Weg, ein hoffentlich leichter Weg. Ich bin vorbereitet auf all die Dinge die passieren können, ich bin vorbereitet auf all die Höhen und Tiefen.
Ich bin bereit!

6 Kommentare
Dany
Wow, ich bin gerade überwältigt von diesem wunderschönen ehrlichen Beitrag. Danke, dass du all deine Erfahrungen und Emotionen in diesen Text gepackt hast. Auch wenn ich solch einen Weg noch nicht beschritten habe, kommen mir die Gefühle die du beschreibst sehr bekannt vor.
Ich wünsche dir, das du auf deinem weiteren Weg das findest, was du suchst. Finde dich selbst und das was dir wichtig ist. Finde zu dir.
Alles Liebe, Dany von https://www.danyalacarte.de
Regina März
Liebe Dany,
vielen lieben Dank!
Beste Grüße
Regina
Alexander
Kann es nur bestätigen!! Jeder seinen eigenen Weg !! Es ist soooo vielen Emotionen gefüllt !!
Danke dir für deinen Beitrag !!!
Regina März
Lieber Alexander,
vielen lieben Dank!
Beste Grüße
Regina
Audrey
Ach, Regina, ich fühle mit dir. Ich habe vor zwei Jahren meinen ersten Jakobsweg gelaufen. Ich fand es (fast) jeden Tag fantastisch. Nur nicht am Tag der Ankunft. Ich war enttäuscht. Ich war traurig. Und dann war auch noch die Kirche eingerüstet. Einigermaßen versöhnt war ich erst, als ich in der Messe saß und die Weihrauch-Zeremonie stattfand, obwohl es hieß, sie würde nicht stattfinden. Ich werde wohl nie vergessen, wie ich in der Kirche saß und mir durch den Kopf schoss: Ich bin über die Pyrenäen hierher gelaufen. 800 Kilometer. Ich habe so heftig geweint – diesmal vor Dabkbarkeit!
Unterwegs habe ich immer wieder Leute getroffen, die auf ihrem x-ten Jakobsweg unterwegs waren. Das habe ich damals nicht verstanden. Bis ich zurück war. Und zurück wollte.
2017 dann den portugiesischen Weg im Frühjahr und den Mosel Camino im Herbst gelaufen. Nach dem ersten Weg vom Freund getrennt, nach dem zweiten vom Job. Und am Donnerstag geht es auf den Norte – allerdings nur bis Santander, mehr Zeit habe ich nicht, aber hey, dann geht es eben im nächsten Frühjahr weiter.
Ich bin sehr gespannt, was ich diesmal erlebe. Denn wie du schon gesagt hast, jeder Weg ist anders.
Regina März
Liebe Audrey,
vielen Dank für Deine lieben Worte. Ich wünsche Dir eine wunderbare Zeit. Du hast Dir die schönste Strecke auf den Norte ausgesucht für Deine Reise.
Buen Camino!
Beste Grüße
Regina